Montag, 24. September 2012

Dienstag, 28. September 2010

Kindstage (Renata)


Lachen (Número Uno)


Es gab Sonne, trübe Pfützen auf sandiger Straße (weil die Straßen damals noch nicht allesamt geteert waren), schmutzige Kinderbikinis, weil der Sand der Straße, in der sie wohnte diese Pfützen hatte, nicht geteert war. Es gab ein großes Fenster oben, dort befand sich die Stube. An dem Fenster saß der Vater und hatte ein Auge auf sie. Gegenüber war ein kleiner wilder Rasen, der zu dem Haus der alten Frau gehörte, welche neben dem Telefon immer die alten Eukalyptusbonbons hatte, die sie immer stahlen. Die alte Frau wusste das. Es war ein Ritual. Auf dem Rasen lagen die beiden manchmal im Sommer auf einer Decke und aßen Lakritz. Auch dann saß der Vater am Fenster. Und freute sich.

Und sie lachten. Und der Vater lachte. Und die alte Frau lachte, weil sie auf dem Rasen lagen und lachten und Lakritz aßen.

Und wie sie alle dort waren, waren aller Kummer und alles andere vergessen, weil alle so sehr lachten, weil der Moment so in Lachen zerfloss.

Renata hat viel gelacht. Die Tage, an denen sie nicht lachte, waren die, an die sie sich nicht erinnern konnte oder mochte. Und zu lachen war immer ein Zeichen des Friedens, der Hoffnung, vielleicht sogar der Angst.

Die Mutter hatte Geburtstag und sie pflückte mit ihrer Schwester die großen Gräser von einer entfernten Wiese, weil es so schön aussah, wenn sie diesen großen Strauß betrachtete. Und Renata und ihre Schwester liefen mit den Grassträußen nach Hause, ganz aufgeregt vor Freude und gaben sie der Mutter zum Geburtstag. Und die Mutter freute sich.

Es gab eine Nacht, in der der Schnee einmal so lange fiel, dass die Haustür zur Hälfte eingeschneit war. Ein Weihnachten, an dem es Stoffäffchen gab und tags darauf Spiegeleier auf dem Containerschiff, auf dem der Vater arbeitete. Es gab auch manchmal Tränen, wenn der Vater wieder fort musste, fort auf das Schiff. Das war das letzte Mal, dass man um den Vater weinte. Damals.

Manchmal, wenn der Vater lange fort mit dem Schiff war, gab es gekochtes Tomatenmark mit Wasser und hartem Brot, weil der Vater vergaß, der Mutter das Geld zu schicken. Manchmal war die Mutter fort und zum Frühstück gab es Kuchen und Buttercroissants, die die Mutter in der Nacht zuvor mit der Reisetasche von der Großmutter holte, damit sie vor der Schule etwas essen konnten.

Es gab den Onkel mit der duftenden Tabakpfeife, der Brause und der Schokolade, als der Vater plötzlich oft daheim war. Sie durften auf dem Schoß des Onkels sitzen und er erzählte ihnen, was sie für tolle Mädchen seien. Und sie lachten. Und die Sehnsucht, dass der Vater das auch einmal sagen würde, diese Sehnsucht wurde immer größer.

Dazwischen gab es noch vieles anderes. Aber das erzählt sich im Kreuz und Quer, weil das Leben diese Verbindungen so gewoben hat, und es nicht gewillt ist, es in Ordnung zu bringen.


Die Flaschen und die Arbeitstasche

Renata war irgendwann in einem Krankenhaus. Sie war dort lange Zeit und konnte sich nicht mehr daran erinnern. Sie wusste es nur, weil ihre Füße knitterig waren und sie sie deshalb immer betrachtete. Die Mutter erzählte ihr, dass der Strom ausgefallen sei und sie damals heißes Wasser von den Nachbarn holen musste. Sie habe den großen Topf vom Herd gerissen und dann war es passiert. Renata konnte sich noch daran erinnern. Das letzte war, dass sie vor dem Herd stand und den Topf ansah. Die Mutter war zu dieser Zeit in der Stube und der Staubsauger machte ohrenbetäubenden Lärm. Aber Renata wusste nicht, ob sie es geträumt hatte oder ob es wirklich so war. Also dachte sie nicht mehr daran.

Zu dieser Zeit war der Vater mit dem Schiff fort. Und Renata wusste nichts mehr, sie sah nur ihre Füße, sie waren verbrüht.

Sie war einfach plötzlich wieder Zuhause – als sei eine Zeitunterbrechung geschehen, die flugs wieder einsetzte - und packte für den Vater die Arbeitstasche, weil er wieder mit dem Schiff fort musste. Und sie wollte auch aufräumen, alles auf einmal, der Kopf war ganz durcheinander. Als der Vater sich auf dem Weg machte, winkte sie ihm aus dem Küchenfenster und die alte Frau von gegenüber rief ihm etwas zu. Er sah auf seine Tasche und ein Strumpfhosenbein sah an der Seite hervor. Dann öffnete er sie und holte eine Kaffeetasse heraus. Die alte Frau und der Vater lachten, Renata schämte sich und lächelte. Alles, was vor der Tasche mit der Strumpfhose war, war weg. Aber das war für diesen Moment nicht wichtig, auch die Füße nicht, weil es schnell vergessen war.

Eines Tages verlor der Vater seine Arbeit. Es flossen keine traurigen Tränen mehr, weil der Vater nicht mehr mit dem Schiff fort war. Er trank viel und oft, er lief die Stube immer auf und ab. Er schimpfte viel, er schrie mit der Mutter. Die Nächte wurden länger, das ging eine Zeit lang so. Darauf wurden sie wieder kürzer, weil der Vater wieder Ordnung schaffen wollte.

Alles wurde anders. Es kamen viele fremde neue Menschen zu Besuch, die auch laut waren und mit dem Vater tranken. Sie hörten dazu laute Musik, tranken aus den vielen Flaschen. Die Mutter war eine Zeit lang nicht daheim, sie lag im Krankenhaus. Es kamen immer öfter fremde neue Freunde, die der Vater spätabends mit nach Hause brachte. Oft blieben sie über Nacht, tranken, hörten laute Musik, redeten, stritten. Renata lag im Bett und hörte die Stimmen. Sie hatte Angst, das jemand ins Schlafzimmer kommen könnte und versuchte immer für eine Weile die Luft anzuhalten, damit sie hören konnte, ob vielleicht jemand käme. Irgendwann schlief sie dann ein, angespannt, erschöpft und schließlich loslassend weggleitend.

Am Morgen, als sie aus dem Bett kroch und auf leisen Füßen durch die Küche zur Stube schlich, roch es überall nach Zigaretten und dem Zeug, dass in den Flaschen war, welches der Vater immer trank. Eines davon sah aus wie Wasser. In der Stube lag der Vater noch angezogen auf dem Sofa und schlief, das Fernsehbild zeigte Schnee mit Ameisen und überall standen Flaschen. Die Flasche mit dem Wasser, war noch nicht ganz leer. Sie nahm sich eines der kleinen Gläser und kippte ein wenig hinein.

Der Geschmack war so abscheulich, dass ihr der Mund brannte und sie das Gesicht verzog… dann sah sie vorsichtig zum Vater. Er schlief noch. Ausatmen. Es war kein Wasser. Im Badezimmer hielt sie den Mund unter den Wasserhahn, damit das Brennen und der Geschmack hinausgespült werden konnten. Der Himmel draußen war grau. Es war still in der Wohnung, nur das Ein- und Ausatmen des schlafenden Vaters war zu hören. Niemand sonst war da. Renata setzte sich in die Küche und sah aus dem Fenster auf die sandige Straße mit den Pfützen, die ausgetrocknet waren. Wo waren eigentlich die anderen?

Die Wiesen (Dos et un poco)


~ Während Renata aus dem Fenster auf den sandigen Weg sieht – gedankenverloren – knie ich leise vor dem Stuhl, auf dem sie sitzt, vor ihr nieder und sehe vom Boden aus in ihr Gesicht. Sie sieht immer noch aus dem Fenster, über mich hinweg, auf die sandige Straße, als wäre die Zeit stehen geblieben. Ich bin nicht wirklich physisch anwesend, vielmehr meine Gedanken, die dort vor ihr knien und sie in diesem Augenblick betrachten. Als könne ich so irgendetwas in ihrem Gesicht erkennen, was ich sehen müsste. Ihre Haut ist etwas blass, ihre Augen leicht glasig und still. Ihr Haar liegt goldverworren und wirr um ihren Kopf und in ihrem Gesicht. Ich kann nicht mehr erkennen. Es ist gut, durchfährt es mich plötzlich. Es ist gut, dass sie dort so sitzt, so still. Es ist gut, dass sie dort so still sitzt und sich nicht zerreißt. Vielleicht ist es ihre innere Stille, die sie über den Wassern hält, sie noch weiterhin darüber halten kann. Und das Lachen – natürlich – das Lachen. Vielleicht wartet sie nun einfach ruhig darauf, dass die anderen kämen. Nach Hause. Ich würde sie jetzt gerne an die Hand nehmen und zu der Wiese gehen, wo sie die großen dicken Gräser mit ihrer Schwester für die Mutter pflückte. Die Gräser der Wiese sind so dick und hoch, dass sie sich dort verstecken kann, in ihr liegen und in den Himmel sehen.

Renata krabbelte mit ihrer Schwester kleine Wege in die Wiesenfläche, dann einen großen Kreis. Der Kreis war ihr Haus, dort wohnten sie für diese Nachmittage und für den nächsten und vielleicht für den übernächsten. Im Sommer darauf würden sie dann ein neues Haus und neue Wege ins Gras hineinkrabbeln.
Sie krochen weiter, neue Wege, ein neuer Kreis. Nun hatten beide ein Haus. Aber keiner der beiden wollte lange allein in ihrem Kreis sein, weil es zu zweit viel schöner war. So wechselten sie gemeinsam einfach öfter die Häuser, damit sie dort zusammen sein konnten. Es roch nach Heu, es kribbelte und piekste, ein leichter Wind fuhr rauschend durch die schwingenden Gräser. Rascheln, rauschen.

Ich setze mich in eines ihrer Häuser und denke daran, was mit der Wiese wohl passiert ist, ob sie schon in Vergessenheit geraten sein mag. Und es wurde ganz still, als ich auch das Gras roch. ~





Das traurige Haus

Das traurige Haus


Das traurige Haus steht an einer Straße in einem kleinen verwehten Ort. Dort gibt es nur Getöse, wenn die Kinder von den Schulen gegenüber zur Schule, in die Pause und nach Hause gehen. In dem Haus wohnt ein Mädchen. Sie geht ab und an durch den kleinen Ort, der höchstens die Größe eines Dorfes erreicht. Dort kauft sie ein. Dann geht sie wieder nach Hause. Nach Hause in das traurige Haus.

An das traurige Haus ist ein kleines angebautes Haus gen Hinterhof angeschlossen. Dort wohnt ein egozentrischer Mann. Der Mann hat viel mit sich selbst zu tun. So sehr, dass sich an seiner Haustür, den Dachrinnen und dem Pflaster davor grüne Ablagerungen abgesetzt haben.

Das Mädchen kommt mit zwei großen Einkaufstüten nach Hause. Sie stellt sie vor die Haustür des traurigen Hauses. Mit sehnsüchtigen Schritten schreitet sie zur Tür des egozentrischen Mannes. Sie weiß nicht wirklich, dass der Mann egozentrisch ist, weil ich das nur behaupte, während ich im Auto sitze und sie beobachte wie sie dort steht. Sie klingelt. Niemand öffnet. Dann schaut sie traurig zu dem Fenster unter dem Giebel. Nichts regt sich. Sie klingelt noch einmal. Wartet. Stille.

Gesenkten Blickes schreitet sie wieder zu den Einkaufstüten, die sie vor ihrer Tür abgestellt hat. Ich senke auch den Blick, ich will uns beide nicht in die Verlegenheit bringen, einander ansehen und in irgendeiner Weise reagieren zu müssen. Als ich wieder aufsehe, sind die Tüten und das Mädchen in dem traurigen Haus verschwunden.

Es ist besonders bitterlich - so denke ich – wenn der Frühling noch nicht die Ablösung vom Winter vollzogen hat, sondern noch in gewisser Weise feststeckt. Genau dann wartet alles gespannt, aber es scheint einfach noch nicht so weit zu sein. Das Grau regiert noch. In solch einem Moment ist es besonders kalt, wenn man vor einer verschlossenen Tür steht, hinter der man sich erhofft, sie sei gefüllt von Wärme und werde sich jeden Augenblick öffnen. Doch dergleichen geschieht nichts. Dann wird es noch kälter. Es ist nicht der Körper, sondern das Herz des Mädchens, welches jetzt fröstelt. Sie sitzt bereits in der Küche, im Obergeschoss des traurigen Hauses. Die Tüten stehen auf dem Tisch, ein paar Dinge davon hat sie ausgeräumt. Dann verweilt sie auf dem Stuhl und sieht auf die Mauer des gegenüberliegenden Hauses. Der Wind durchdringt das geschlossene Fenster mit unerträglicher Stille und zu allem Überfluss befinden sich am Himmel grauenvoll düstere Wolken, die das Tageslicht in ein noch graueres einhüllen, als es um diese Zeit schon ist. Dann streckt das Mädchen die Hände vor sich aus und schaut auf ihre Handinnenflächen. An dieser Stelle verfällt sie in Gedanken. Sie ist traurig. Traurig wie das ganze Haus. Ist sie traurig, weil der egozentrische Mann nicht öffnet? Der Mann war sicherlich nicht da, später wird sie es vielleicht wieder versuchen.

Aber ist man so traurig, wenn ein Mann einmal nicht da ist? Oder weiß sie, dass der Mann da ist, nur er will ihrer Sehnsucht nicht Einlass gebieten. Ihrer Person. Ihres ganzen Wesens. Sie wird es wohl wissen. Wie sonst könnte sie so traurig sein?

Aber sie kann sich nicht von ihrer Sehnsucht lösen, auch das traurige Haus wird sie nicht davon erlösen können. Sie wird dennoch warten. Warten auf den Einlass des egozentrischen Mannes. Ihre Handinnenflächen sind rot, ein wenig wund vom Tragen der Tüten.

Vielleicht wird das Mädchen gleich die Hände wenden und ihre Nägel betrachten. Dann überlegt sie sich, dass sie sie schneiden müsse. Das heitert sie eine Spur auf. Sie könnte es tun, damit sie wieder schön aussehen. Dann würde sie einen Augenblick nicht an den egozentrischen Mann denken, nicht an ihre Sehnsucht und diesen dumpfen Schmerz. Sie bewahrt Ruhe, und mit dem Gedanken, dass sie sich gleich die Fingernägel schneiden wird, räumt sie langsam die Dinge aus den Tüten in die Schränke ihrer Küche ein. Ich bin derweil lange hinfort mit dem Auto gefahren. Vielleicht gibt es den egozentrischen Mann nicht, vielleicht schneidet sich das Mädchen auch gar nicht die Fingernägel. Aber ich habe sie stehen sehen, die beiden Tüten vor dem traurigen Haus und das Mädchen vor der grün angelaufenen Türe mit dem leeren Fenster unter dem Giebel. Und es hat niemand geöffnet.


02.03.2004

Freitag, 29. Mai 2009

Heute ist Freitag...

...und ich sitze vor dem PC und mache mich darüber schlau, was draußen so passiert. Dabei bin ich auf Deutschtexte bei Schroedel.de gestoßen, auf literaturkritik von Marcel Reich-Ranicki und dann fiel mir siedenheiß auf: Ich schaue am Freitag immer die gleichen Serien. Besonders seit der Schwangerschaft und nun immer noch. Und gleichzeitig juckt es mir in den Fingern mal ein Buch von Marcel zu lesen und... ich habe schon wieder eines meine Lieblinge gehört, gleich ist er wach und alles was ich eigentlich gerade mal machen möchte, hat sich erledigt. Tja, so ist das. Aber ich liebe die beiden. Alles andere muss einfach mal warten. Vielleicht lese ich irgendwann noch einmal was ich heute geschrieben habe und habe dann mehr Zeit sowas nachzuholen. Es gibt so vieles, was man machen kann. Unerschöpflich. Ich kann mir überhaupt nicht vorstellen, dass mir jemals langeweilig werden könnte. Ich verstehe auch nicht wie jmd. langweilig sein kann. Ich hätte höchstens die Befürchtung, dass ich niemanden finde, mit dem ich über all das sprechen kann. Das wäre schon schade. Faszination macht erst richtig Spaß, wenn man sie mitteilen kann.
Bis bald!